Ziel des Seminars war es, die Schicksale und Lebenswege möglichst vieler Mitglieder der jüdischen Gemeinde wieder lebendig zu machen. Die Erkenntnisse aus diesem Seminar sollen die in Wittingau/ Třeboň vorhandenen sichtbaren Erinnerungsformen digital ergänzen: Neben drei Gedenksteinen für Opfer des Holocaust am Marktplatz sowie zwei großen Gedenktafeln vor einer Grundschule am Schlosspark, die an die Opfer des I. und II. Weltkriegs erinnern, soll diese Projektseite einen Einblick in die Forschungsergebnisse liefern und diese für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich machen, um vielleicht auch als Ausgangspunkt für weitere Forschungsarbeiten zu dienen.
Seminarbeschreibung #
Im Seminar zum Thema ‚Aufbau und Verschwinden der jüdischen Gemeinde im südböhmischen Wittingau‘ (tschechisch Třeboň) sind Studentinnen und Studenten den Spuren von individuellen Schicksalen nachgegangen, die längst unsichtbar geworden sind.
Nur wenig erinnert an eine vor einhundert Jahren blühende jüdische Gemeinde in der heutigen Kurstadt Wittingau in Südböhmen, dem einstigen Sitz der bedeutenden Adelsgeschlechter Rosenberg und Schwarzenberg. Aus dieser Adelsfamilie stammte auch der kürzlich verstorbene ehemalige tschechische Außenminister Fürst Karel Schwarzenberg. Eine Gruft der Schwarzenberg findet sich nahe des Zentrums, ihre Archivmaterialien sind im regionalen Archiv der Stadt gut erhalten geblieben. Aber was erinnert an deren ehemalige jüdische Bewohner?
Digitale und lokale Spurensuche #
Im Wittingauer Archiv, einem der größten Archive der Tschechischen Republik, finden die ForscherInnen Anhaltspunkte zu den damaligen Bewohnern der Stadt: Informationen zu Geburtsbüchern und Volkszählungen sowie Dokumente wie die Beantragung zur Gründung einer Synagoge im Jahr 1911 bei der damals herrschenden Fürstenfamilie Schwarzenberg oder auch Dokumente aus der Zeit des II. Weltkriegs während des Protektorats Böhmen und Mähren, aus denen hervorgeht, wie die jüdische Bevölkerung - auch in Wittingau - systematisch aus der Gesellschaft ausgeschlossen und schließlich im Jahr 1942 die letzten jüdischen Bürger abtransportiert wurden, was das Ende der jüdischen Gemeinde zur Folge hatte.
Ausgestattet mit den im Archiv erhaltenen Informationen, welche insbesondere Rückschlüsse auf die Topografie der Stadt und damit auf die ehemaligen Wohnsitze der jüdischen Bürger ermöglichen, machen sich die StudentInnen zunächst ein Bild von der Stadt. Die Häuser der ehemaligen jüdischen Bewohner werden auf dem Stadtplan eingezeichnet und bei einem Stadtrundgang fotografisch festgehalten, um sie später mit den recherchierten Daten zu den Bewohnern zu verknüpfen. In den Archivdokumenten finden sich Häuser aus dem Innenstadtbereich (I) und äußeren Bezirken (II). Die Recherche wird auf den Bereich I eingegrenzt. Dabei stellt sich heraus, dass viele der Häuser im Stadtkern in unmittelbarer Nähe zum Schloss, also am Marktplatz oder in den umliegenden Gassen liegen. In den Häusern wohnten während des Bestehens der jüdischen Gemeinde teilweise mehrere Familien hintereinander. Darunter waren Kaufleute, Ärzte, Metzger, Gerber sowie Verwaltungsangestellte. Letztere wohnten in Wohnungen, die zu einem Schlosstrakt am Rande der Parkanlage gehörten.
Bei einem anschließenden Besuch des jüdischen Friedhofs vor den Toren der Stadt wird deutlich, wie kurz dieser verwendet wurde. Das erste Begräbnis fand im Jahr 1900, das letzte im Jahr 1940 statt. Nicht alle hier bestatteten Personen kamen aus Wittingau. Dennoch finden die StudentInnen hier auch Namen derer, die ihnen aus der Recherche über die jüdischen Bürger Wittingaus bekannt sind und sie können einige Verknüpfungen herstellen.
Datenverarbeitung und Fortsetzung der Datensuche #
Nach der Exkursion werden die erhobenen Daten verarbeitet, um anschließend in digitalen Datenbanken und -archiven nach weiteren Zeugnissen für die damalige jüdische Gemeinde weiterzusuchen. Eine wichtige Quelle für diese Recherche stellen das digitale Archiv der Stadt Wittingau (Státní oblastní archiv v Třeboni) sowie das tschechische Nationalarchiv (Narodní archiv) dar. Historische Postkarten aus dem südböhmischen Archiv in Wittingau machen die Veränderungen des Stadtbilds im Laufe der Jahrzehnte deutlich, insbesondere bei den Häuserfassaden: So ist die Fassade des Hauses eines jüdischen Kaufmanns und dessen Geschäft auf einem historischen Bild im Vergleich zu heute kaum wiederzuerkennen. Das damalige Modehaus Metzl am Marktplatz, das im Haus neben dem noch heute bestehenden Hotel Bílý koníček lag, hatte früher große Schaufenster. Heute befinden sich dort Arkaden.
Die digitalisierten Geburtsmatriken des tschechischen Nationalarchivs geben Aufschluss über Geburts- und Sterbedaten, Berufe, Wohnhäuser und teilweise auch über die politischen Verhältnisse: So hat der einzige männliche Holocaust-Überlebende der Familie Metzl, Jiří, im Jahr 1946 einen Antrag auf die Änderung seines Nachnamens in Mecl beantragt (Quelle: Nationalarchiv, vademecum, Inventarnr. 2186, Geburtsmatrik 124, S. 15, Eintrag 34). Dies kann ein Hinweis auf die schwierige Situation der jüdischen Bevölkerung nach der Zeit des Nationalsozialismus sein. Viele hatten deutsch klingende Nachnamen, was in der kommunistischen Zeit als ‚deutsches Element‘ gedeutet wurde.
Auch in anderen digitalen Datenbanken stoßen die StudentInnen bei ihrer Recherche auf Namen jüdischer Bürger, die sie aus Wittingau kennen. Dies gibt im Falle von tschechischen, deutschen und internationalen Holocaustdatenbanken die traurige Gewissheit über das Schicksal der letzten noch in Wittingau lebenden Bürger, deren Häuser und Besitz konfisziert und die am 18. April 1942 über die südböhmische Stadt Budweis zunächst nach Theresienstadt und anschließend in weitere Konzentrationslager deportiert wurden. Wie im Fall von Felix Metzl, der in Wittingau ein Modegeschäft leitete und sein Leben in einem Außenlager des Konzentrationslagers Dachau in Landsberg/ Kaufering verloren hat (Quelle: ITS Archives, Bad Arolsen).
Hintergrundinformationen #
Auf die Exkursion haben sich die TeilnehmerInnen mit Impulsreferaten vorbereitet, um das Bestehen der jüdischen Gemeinde in Wittingau in historische und politische Zusammenhänge zu setzen: Dazu gehören Informationen
- zur Habsburgmonarchie, zu der Böhmen und die südböhmische Stadt Wittingau gehörten
- zur Geschichte der Stadt Wittingau unter der Herrschaft der Adelsgeschlechter Rosenberg und Schwarzenberg, welche die Entwicklung der Stadt und der Teichwirtschaft in Wittingau maßgeblich geprägt haben
- zur Geschichte des Judentums auf dem Gebiet der böhmischen Länder und Tschechiens vor und nach dem II. Weltkrieg, die auch die schwierige Lage der jüdischen Bürger während der kommunistischen Diktatur bis 1989 beleuchten
- zum Thema Erinnerungskultur, die aufzeigen mit welchen Formen (beispielsweise Gedenksteinen, Tafeln, Veranstaltungen) in Städten wie Wittingau und Passau an die Vergangenheit erinnert wird.
Ergebnisse: Beispielbiografien/ Einzelschicksale (Fotografien, Stammbäume) #
Am Ende des Seminars – das auf den 27.1.24, den jährlichen Holocaust-Gedenktag, fällt und an dem in Passau die wohl größte Demonstration gegen Rechts stattfindet – steht fest, es konnten nicht zu jedem einzelnen Gemeindemitglied Informationen gefunden werden, vieles ist verloren gegangen und es gibt wenige Gegenstände oder Bilder, die an die ehemaligen jüdischen Bewohner Wittingaus erinnern. Allerdings konnte aus den Archivmaterialien und den digitalisierten Dokumenten in Verbindung mit den Häusern in der Stadt einiges über die Gemeindemitglieder rekonstruiert werden. Aus den digitalisierten Zeitungsartikeln konnte auch ein Hauch des kulturellen und sportlichen Lebens erahnt werden. Letztlich sind es die steinernen Zeugen, die Häuser und Grabsteine wie auch der von Ludwig Metzl gegründete Sportclub Ostende, der heute einen Segelverein beherbergt, die an diese Zeit erinnern. Belebt wurden diese stummen Zeugen durch die Geschichten und Informationen über die Bewohner und Bürger dieser Stadt, welche aus der Recherche hervorgehen.
Quellenangaben #
Es ist eine schwierige Spurensuche, auf die sich die SeminarteilnehmerInnen begeben haben. Einerseits da die wenigen zur Verfügung stehenden Dokumente oftmals widersprüchliche Angaben zu Geburtsdaten, Wohnhäusern, Berufen oder auch Namen beinhalten. Andererseits da der Lebensweg nur aus den noch erhaltenen oder digitalisierten Dokumenten nachgezeichnet werden kann. Als verlässliche Quellen stellen sich die Geburtsmatriken des Nationalarchivs heraus. Sekundärquellen, Verwaltungsdokumente oder auch Volkszählungen enthalten teils widersprüchliche Angaben.
So steht in der Geburtsmatrik zu Otto Schwarz als Geburtsdatum der 06.05.1894 (Quelle: Nationalarchiv, vademecum, Inventarnr. 2186, Geburtsmatrik 124, S. 2, Eintrag 3). In Dokumenten vom 12.01.1942 und 25.02.1942 (Státní okresní archiv Jindřichův Hradec, Archiv města Třeboně, karton 210, Dok. 412 und 416) steht das Jahr 1884. Bei anderen jüdischen Bewohnern sind unterschiedliche Familiennamen verzeichnet, wie bei der Familie Ornstein: während auf dem jüdischen Friedhof der Name Ornstein auf dem Grabstein steht und auch die Geburtsmatrik die Großeltern von Otto Schwarz mit diesem Namen verzeichnet (Quelle: Nationalarchiv, vademecum, Inventarnr. 2186, Geburtsmatrik 124, S. 2, Eintrag 3), enthält eine Sekundärquelle, die sich u.a. auf Daten aus Volkszählungen bezieht, den Namen Arnstein (Blanka Rozkošná, Prag 2012, S. 209).
Auch bei Informationen zu Häusern und deren Bewohnern finden sich unterschiedliche Angaben, was einerseits an Umzügen, aber auch an Fehlern bei der Eintragung liegt: so sind beispielsweise beim Kaufmann Felix Metzl in Dokumenten aus der Zeit des Protektorats Böhmen und Mähren die Hausnummern 96/I und 96/II verzeichnet. Das Haus 96 liegt jedoch im Stadtkern, d.h. im Bezirk I, nicht in den mit II bezeichneten Außenbezirken.
Manche Fakten, etwa die aus einer Volkszählung aus dem Jahr 1921, verändern sich mit der Zeit: So wird ein Sohn der Familie Metzl, Viktor, als Student erfasst. Zum Zeitpunkt seines Todes 1945 im Konzentrationslager Mauthausen war dieser promovierter Jurist. Berufliche Veränderungen gab es auch während der Zeit des Nationalsozialismus: So wird der jüdische Kaufmann Felix Metzl in der Volkszählung 1921 als Student, in späteren Datierungen als Kaufmann (Státní okresní archiv Jindřichův Hradec, Archiv města Třeboně, karton 210, Dok. 401 und Jiřina Psíková, Třeboň 2010) und in der Zeit kurz vor der Deportation ins Konzentrationslager Theresienstadt als Arbeiter erfasst, da er in der Protektoratszeit vermutlich zu Arbeitseinsätzen nach Bavorovice bei Hluboká nad Vltavou gesendet wurde (Státní okresní archiv Jindřichův Hradec, Archiv města Třeboně, karton 210, Dok. 410).
Kontakt zum Forschungsteam #
Lehrstuhl DH
Dozentin: Dr. Erika Tesar, erika.tesar@uni-passau.de